Die verwilderte Ahnung eines Gartens
Mitte November durch kniehohes, feuchtes Gras steigen und mitten in der Wildnis auf einem Bänkchen in der Sonne sitzen,
das übertrifft jeden Strandkorb im Hafen. Wind und Licht bewegen und beleuchten üppige Gräser vor meinen Füßen.
In der Ferne hohe unbelaubte Baumwipfel. Wohnort zahlreicher Krähen.
Einen Meter entfernt zwei kleine, überwucherte Wasserbecken, in denen Seerosenblätter schwimmen. Dahinter das Gestänge eines ehemaligen Gewächshauses vor dem ein knorriger Apfelbaum seine dunklen Äste ins Licht reckt. An den Zweigen kleine knallrote Äpfel.
Unmittelbar nebeneinander zwei verfallene Lauben. Eine aus grauem Wellblech und Holz. Die Fenster zerschlagen und Reste von Vorhängen vom Wind bewegt. Das gelbe genoppte Glas der verschlossenen Tür leuchtet wie Bernstein.
Die angrenzende Laube mit dem steinernen Bänkchen war einmal ockerfarben. Seitlich vorgelagert eine überdachte Terrasse mit hellgrauen Steinplatten. Ihre Seitenwand ist vollkommen mit Efeu zugewachsen. Die Balustrade der Veranda von außen hellgrau. Trockenes Gehölz wirft phantastische Schatten darauf. Innen erinnert nur eine kleine gekachelte Ecke an bewohnte Zeiten.
Jene Kleingartenreste liegen versteckt auf einer Anhöhe.
Auf dem Weg dorthin kommt man an der alten Ziegelbrennerei und einer ehemaligen Villa vorbei, die heute Kunst und alternative Lebensform beherbergt. Auch ein kleines ebenerdiges Backsteingebäude inmitten eines langgezogenen Grundstücks zieht bei jedem Vorbeikommen meine sehnsuchtsvollen Blicke auf sich. Es hat eine Grundfläche von etwa fünfzig Quadratmetern und drei Fenster sowie eine Eingangstür zur Straßenseite. Links vom Haus türmen sich überdachte Holzstapel, auf der anderen Seite ein Garten mit Hochbeeten und neu gepflanzten Büschen und Bäumen. Sie begrenzen das Grundstück. Alle Pflanzungen sind mit Drahtgittern schützend umhüllt. Heute sehe ich auch die Bewohner. Ein junges Paar mit einem etwa anderthalbjährigen Kind. Sie bringen gerade ihren Müll zum Nachbarn in der Villa, mit dem sie sich die Tonnen teilen. Die Frau stammt aus Köln. Beide sind Architekten und freiberuflich tätig. Wir stellen fest, gemeinsame Bekannte zu haben.
Ich konnte mich morgens schwer von einem Buch losreißen, was mich gerade immens fesselt und musste mich entscheiden, das Weiterlesen auf die Dunkelheit zu verschieben oder die überraschende Helligkeit dieses Tages zu nutzen.
Es drängte mich unterwegs, die ersten berührenden Momente festzuhalten und mich durchfuhr ein Stich, denn ich hatte weder Kamera noch Handy dabei. Kurzes Abwägen, ob zurückfahren oder mich dem Erleben zu überlassen… Ich ließ los und „überlebte“ es, denn
auf dem Bänkchen im Gras, angelehnt an die ockerfarbene Wand, spürte ich tiefes Glück. Eine Art von angekommen sein.
17.11.24
aus HANNI HEDI UND TRUDI
HANNI HEDI UND TRUDI
Der Tag beginnt grau. Freitags steht sie immer früh auf, um noch vor 9 Uhr zum Markt zu gehen. Dann bekommt sie noch alle frischen Kräuter und gutes regionales Gemüse bei einem kleinen Biobauern aus der Umgebung. Auf dem Weg begegnet sie einem Mann, der ihr seit einiger Zeit in den Straßen der Stadt auffällt. Mit einem Norwegerpullover bekleidet, langen weißen Haaren und einem wilden weißen Bart läuft er bedächtig und leicht schwankend barfuß durch die Straßen. Ein kleiner brauner Hund ist immer an seiner Seite. Kürzlich hatte sie den Wunsch, ihn fotografieren zu wollen. Da sie sich bisher jedoch noch nicht kannten, möchte sie es ohne seine Zustimmung nicht tun.
Von ihrem Fenster aus sah sie ihn kürzlich in das schräg gegenüberliegende Haus gehen und kurze Zeit später ganz oben in einem offenen Flur auftauchen und eine der dunkelroten Türen öffnen. Heute nickt er grüßend und sie entschließt sich, ihn anzusprechen. Dass sie Nachbarn seien, sagt sie, und ob er auch im Winter barfuß läuft, fragt sie. Er erzählt ihr von seinen kranken Gelenken und sie laufen eine Weile langsam nebeneinander her, denn auch er möchte zum Markt. Unterwegs notiert sie seine Telefonnummer, um das Gespräch irgendwann fortsetzen zu können. Am Gemüsestand gewährt er ihr den Vortritt und während sie ihre Einkäufe einpackt, bietet er ihr eine Banane an.
Anschließend erledigt sie andere Dinge und da bei ihr Zuhause unerwartet kein Wasser läuft, weil im Haus gebaut wird, was aber auf Nachfrage „nur einen Moment“ dauert, kann sie nicht viel tun und macht sich nochmals auf den Weg. Sie will ein Bauteil kaufen, womit sie den Schlauch der neuen Waschmaschine mit dem Abfluss verbinden kann. Den Abbau der alten hat sie erstmalig allein geschafft doch die Montage der neuen bereitet ihr Schwierigkeiten.
Unterwegs sieht sie, dass der Zugang zur Baustelle des Katharinen Klosters geöffnet ist. Da sie weiß, dass dort ein befreundeter Restaurator am Werk ist, lässt sie sich von einem Bauarbeiter durch die Gänge zu ihm führen. Er arbeitet auf einem eingezogenen Zwischenboden allein in einer hohen Halle und kommt, nachdem der Begleiter ihm zugerufen hat, „Du hast Besuch“, zu ihr herunter. Er erklärt und zeigt ihr andere Räume die sich alle noch im Umbau befinden. Sie staunt über die Pracht und die zarten Säulen, welche hohe Gewölbe tragen. Als Fachmann weiß er, aus welchem Stein sie gefertigt wurden und wie dieser gewachsen ist. Kurz vor dem Gehen erwähnt sie ihr Waschmaschinenproblem und er empfiehlt ihr, vorübergehend den Ablaufschlauch in die Wanne zu hängen. Versicherungstechnisch ist ein Selbstanbau bei einem eventuellen Schaden zu riskant.
Kurze Zeit später klingelt ihr Telefon. Der Vermieter fordert sie auf, schnellstmöglich nach Hause zu gehen, weil bei ihr in der Wohnung Wasser plätschert. Also flott kehrt gemacht und die 3 Etagen hochgeflitzt. Zwischenzeitlich hatten die Arbeiter im Haus die Hauptleitung zugedreht, sodass im ersten Moment nichts Auffälliges zu bemerken war. Als der Hahn wieder geöffnet wurde, lief in ihrer Küche das Wasser. Durch häufige Tests, ob „der Moment“ vergangen ist, hatte sie beim letzten Mal den Hahn nicht zugedreht.
Danach fuhr sie mit dem Rad zum Hafen, befragte ihre befreundeten Schiffsleute ebenfalls zum offenen Thema, weil die zuvor vorgeschlagene Lösung nicht praktikabel ist. Der Schlauch hat zu viel Spannung, würde aus der Wanne springen und das Bad unter Wasser setzen. Man gab ihr einen sehr schweren Hammer, den sie mit Panzerband am Schlauch befestigen soll, damit dieser beim Ablassen des Wassers in der Wanne bleibt.
Nach dem Mittag rief sie ihren morgendlichen Begleiter an. Von ihrem Fenster aus sah sie, wie er vor die Tür trat und derart konnten sie sich beim telefonieren sehen. Warum telefonieren wir, sagte er, sie könne doch auf einen frisch gebrühten Pfefferminztee herüberkommen. Zwanzig Minuten später klingelte sie bei ihm. Hatte zwei dunkelblaue und zwei kleine orangefarbene Früchte zum Tee gekauft. Nach Durchqueren seiner Singlewohnung betrat sie eine sonnige Terrasse mit Blick über die Dächer und staunte über die wunderbare Ruhe auf der Straße abgewandten Seite. Während ihrer Unterhaltung lag Trudi, sein Hund, die ganze Zeit neben ihm auf dem Gartensofa. Ab und zu kam Nachbars Katze Luna vorbei und strich ihnen um die Beine. Möwen rauschten über ihre Köpfe hinweg. Als er ein paar Häppchen mit selbst gebackenem Brot auf dem Tisch platzierte, ließen sie sich mit aufmerksamem Blick in der Nähe nieder. Der Nachbar berichtete, wie er an diesem Ort gelandet ist und von zahlreichen Lebensstationen. Früher war er in einem westdeutschen Industriegebiet im Bergbau beschäftigt, sowohl über als auch unter Tage. Durch körperliche Beeinträchtigungen wurde er früh Rentner. Heute ist er Ende sechzig und gestaltet sein Leben ganz nach seinen Wünschen und Vorstellungen. Beim Gehen fragte er, ob er sie umarmen dürfe und drückte sie an seinen üppig gewölbten Bauch.
Wie gewöhnlich fuhr sie danach zum Kanal und saß, in einem kürzlich geschenkt bekommenen Buch lesend, an einem ihrer Lieblingsplätze. Im Buch geht es ums Unterwegssein auf den Spuren von berühmten Dichtern und Künstlern, die ferne Orte zu ihrem Lebensmittelpunkt wählten und dort eine Zeitlang arbeiteten.
Auf dem Heimweg begegnete sie einem Mann mit grauen Taschen rechts und links unter den Armen. Aus ihnen schauten die kleinen Köpfe von zwei Zwergdackeln heraus. Einer wirkte etwas apathisch und sah schon etwas grau aus. Der andere reckte wach und neugierig seinen Kopf heraus. Wie mir der Mann verriet, sind es Hanni viereinhalb Jahre alt und Hedi sieben. Ihre kleinen Gesichter gaben Aufschluss über recht unterschiedliche Temperamente. Zu Hause am Rande einer Großstadt haben sie genügend Auslauf und werden nur auf Reisen ab und zu getragen.
Am Ende des Tages ist ihre Waschmaschine immer noch nicht in Betrieb dafür war er aber voller Erlebnisse.
aus HANNI HEDI UND TRUDI
Die Gasse zwischen Jacobikirche und Badstüberstraße ist wie viele der Alstadtstraßen gepflastert. In der Mitte verläuft ein schmaler Plattenweg, auf dem man besser laufen und viel besser Fahrrad fahren kann. Jedes Mal, wenn sich zwei Personen darauf begegnen, gibt es eine nicht wahrnehmbare Absprache, wer den glatten Streifen dem anderen überlässt. Es erinnert mich immer an die Geschichte mit den beiden Ziegen auf der schmalen Brücke. Meist laufen beide Fußgänger gegenseitig rücksichtsvoll neben dem Streifen aneinander vorbei und ich muss innerlich lächeln, weil damit etwas verschenkt wird. Andere wiederum kümmert der Entgegenkommende überhaupt nicht, ohne Frage nehmen sie ihr Wegerecht in Anspruch. Manchmal ergibt sich ein heiteres Gespräch über das Wesen nonverbaler Kommunikation und alter Schule.
An einem sonnigen Frühlingstag kam mir von weitem ein ungefähr vierjähriges blondes Mädchen entgegen. Sie trug einen leuchtend grünen Pulli und ich war sehr gespannt, wie unsere Begegnung auf dem Mittelstreifen ausgehen würde. Doch sie machte Halt und schritt langsam zurück. Vor ihrem Haus machte sie Halt, drehte um und kam mir erneut entgegen. Es interessierte mich sehr, was ihr dabei durch den Kopf ging. Auf den Stufen des Hauses saßen ihre Eltern und ich fragte, was macht sie? Die Mutter antwortete „sie läuft hin und her. Sie probiert ihre neuen Ballerinas aus.“
aus QERKANAL

AUF GROSSER FAHRT
Zuerst saß ich auf dem Oberdeck und genoss erwartungsvoll die Hafenausfahrt. Vorbei am grünen Leuchtturm am Ende der Mole. Bald jedoch wickelte ich mich in meine Decke, denn der Wind wurde immer heftiger. Nach und nach leerte sich das Deck. Auch ich verzog mich bald ins Innere des Schiffes.
Auf der einen Seite wurde das Meer von der Sonne beleuchtet, die durch den Morgennebel schien. Auf der anderen zogen Sandbänke vorbei, auf denen zahllose Schwäne und Wildgänse rasteten. Das Land dahinter konnte man wegen des dichten Nebels gar nicht erkennen.
Kinder plapperten. Ein Paar spielte ein Spiel, was mich sehr interessierte, denn sie waren murmelnd in ausgelegte Karten vertieft und machten Notizen. Der Mann schrieb linkshändig. Ich konnte jedoch von Weitem das System nicht verstehen.
Das Licht warf den Schatten meiner schreibenden Hand aufs Papier. Am rechten Horizont einzelne scherenschnittartige Baumgruppen.
Eine junge Frau mit gerade geschnittenem dunklem Pony verpackte lächelnd die soeben fertig gestrickten weinrot geringelten Socken in Geschenkpapier.
Ein Mann schlief kopfüber auf seinen Armen. Die ihm gegenübersitzende Frau schaute ihn liebevoll an. Er schien Osteuropäer zu sein, was sich später im kurzen Wortwechsel auch bestätigte. Vielleicht war er in der Nacht zu ihr angereist und sie wollten sich heute einen schönen Tag auf der Insel gönnen.
An der Anlegestelle wartete auch ein betagtes Ehepaar. Er trug eine Schiffermütze und hielt sich am Rollator fest in dessen Korb ein Strauß Blumen lag. Seine Frau war noch gut zu Fuß, jedoch schwerhörig. Sie trug ein wenig zu kurze braune Hosen und einen Tortenkarton. Wie ich in unserem Gespräch auf der Heimfahrt erfuhr, besuchten sie ihre Wirtsleute aus früheren Zeiten auf der Insel.
Eine junge Mutter steuerte, mit der Linken den Sportwagen schiebend, mit der Rechten einen großen Koffer und Laptop hinter sich herziehend, die Anlegestelle an. Das etwas größere Kind, vielleicht vier Jahre alt, stapfte mit kleinen Beinchen, die in dicken Stiefeln steckten, nebenher. Sie schienen von weither angereist zu sein. Das Inselabenteuer lockte sie. Ich konnte mir ihre Anstrengung allein mit zwei Kindern und dem Gepäck gut vorstellen. Deshalb fragte ich, ob ich ihr etwas abnehmen kann. Sie sagte, der Koffer ist zu schwer. Daraufhin griff ein nahestehender Mann zu. Später sah ich sie mit den Kindern durch das Schiff wandern, wobei das Mädchen interessiert bei den Kartenspielern stehen blieb. Ich dachte, ein Kind kann das ohne weiteres machen, zugucken und somit seine Neugier befriedigen.
aus MENSCHEN AM MEER
